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Hey, Shorty - der kleinste Mikrokosmos hält manchmal die größten Wunder bereit. Zum Beispiel "Nudis".

  • Autorenbild: Carina Neumann
    Carina Neumann
  • 24. Juli 2023
  • 6 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 18. Sept.

Wer oder was seid ihr denn? Von diesen farbenfrohen Geschöpfen leben über 200 Arten vor den Pityusen. Obwohl sie aussehen wie kleine Punker, sind sie wahre Phantome des Meeres. Nur die allerwenigsten Menschen bekommen sie jemals zu Gesicht. Der Meeresbiologe und Unterwasser-Fotograf Xavier Salvador Costa ist einer von ihnen. In dieser Meer Wissen-Folge verrät er uns: Wo verstecken sich all diese Kreaturen, und wer sind sie überhaupt? Kleiner Tipp: Die Rede ist von Meeresnacktschnecken, und sie sind ganz nah – aber nicht immer. Der Frühling ist die Hochsaison der kleinen, großen Wunder.


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Mit bis zu 5 Zentimetern Körper-"Größe" zählt Flabellina affinis zu den größeren Nudis.


Das riesige Makro-Objektiv von Xavier Salvador Costas Unterwasser-Kamera fängt Leben ein, das sonst vor dem Auge von Badenden verborgen bleibt. Wo andere unwissend dran vorbeischwimmen, findet er filigrane Wesen in den surrealsten Formen und Farben. Und dazu muss er gar nicht weit ins Meer raus, denn seine Fotomodels sind nah an den Küsten: „Tauchen ist nicht nötig, die Nacktschnecken leben in geringen Tiefen und sind sogar beim Schnorcheln zu sehen“, erklärt Xavier. Theoretisch zumindest, denn selbst erprobte Schnorchel-Fans erblicken die Schneckchen, die wegen ihres wissenschaftlichen Namen Nudibranchia auch liebevoll „Nudis“ genannt werden, nur mit verschwindend geringer Wahrscheinlichkeit. Laut Xavier denken viele Menschen sogar, die bunten Schnecken gebe es nur in den Tropen. Dabei wimmelt es auch im Mittelmeer von ihnen, aber...


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Hey, Kleines - Placida cremoniana wird nicht größer als einen Zentimeter.



Warum sieht man die Nudis nur so selten?


Es gibt zwar auch ein paar größere Arten, aber laut Xavier werden viele Nudis kaum größer als einen Zentimeter. Die meisten Schnecken sind also Miniaturwesen, die mit bloßem Auge kaum zu erkennen sind. Und dann haben sie laut dem Biologen auch eine bestimmte Saison: „Die meisten Nudis sind im Frühjahr unterwegs, wenn das marine Leben nach dem Winter mit dem Eintreffen der Nährstoffe explosionsartig zunimmt.“ Unsere Badesaison im Sommer ist laut Xavier hingegen die schlechteste Zeit, um die kleinen Nacktschnecken zu sehen, von denen manche nicht älter als eine Woche werden. Nicht zuletzt wäre da noch die Tatsache, dass viele der Nudis nachtaktiv sind. All das macht den Mikrokosmos der bunten Schnecken zu einer winzigen Parallelwelt, die meist völlig unbemerkt neben der unseren existiert. So finden sich die Nudis in den Badebuchten oft nur wenige Zentimeter unter der Oberfläche und führen dort ein geheimes Undercover-Leben. So bunt und doch so unscheinbar.


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Xavier Salvador Costa ist Meeresbiologe und forscht für das Meeresinstitut des spanischen Forschungsrates CSIC. Er ist auch Buch-Autor und Unterwasser-Fotograf.


"Einer psychedelischen Modenschau entsprungen"


Fragt man Xavier, was ihn am meisten an den Nudis fasziniert, hat er eine biologische und eine künstlerische Perspektive. Als Naturforscher und Biologe reizt ihn, dass er ihre Phänologie versteht. Also, dass er weiß: Warum tritt diese Art zu diesem Zeitpunkt auf, und was ist ihr Lebenszyklus? Als Unterwasser-Fotograf hingegen sind es für ihn ihre unglaublichen Farben: „Wenn wir an Schnecken denken, denken wir an Landschnecken, die meist braun und wenig schmeichelhaft sind. Aber im Meer ist das Gegenteil der Fall: Wir können Formen und Farben sehen, die einer psychedelischen Modenschau entsprungen zu sein scheinen, und die uns denken lassen: Aber so kann dich doch jeder sehen! Warum sollte man dich also nicht essen?“ Laut Xavier ein weiteres Geheimnis der Nudis: Ihre markanten Farbmuster schrecken Feinde ab, denn sie warnen sie vor ihrem potenziellen Gift. Viele Arten produzieren nämlich Toxine, die „reizend“ sind oder Fressfeinde sogar verbrennen können. Manche Nudis tragen auf ihrem Rücken auch sogenannte Mikrostacheln zur Abwehr. Laut dem Biologen müssen die Winzlinge deshalb nur selten fürchten, gefressen zu werden.


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Peltodoris atromaculata ist mit bis zu 10 Zentimetern sogar eine kleine Gigantin unter den Nudis. Dank ihrem Look trägt sie auch den Spitznamen "Schweizer Kuh".


Für Menschen ist das Gift nach Xavier aber harmlos. Der „Blaue Drache“ (Glaucus Atlanticus), der an ein Fabelwesen aus einem Fantasyfilm erinnert, kann zwar Irritationen oder bei Allergie auch schwere Reaktionen hervorrufen, jedoch nur, wenn man ihn reizt. Seit Beginn der Aufzeichnungen gab es im Mittelmeer nur zwei Sichtungen dieses wundersamen Wesens, und die waren kurioserweise beide auf Ibiza! Allerdings vor sehr langer Zeit, nämlich in den Jahren 1916 und 1924. Normalerweise lebt der Blaue Drache vor allem im Atlantik und kommt im Mittelmeer so gut wie gar nicht vor. Schade eigentlich, denn er frisst gerne giftige Organismen wie die Portugiesische Galeere, die vereinzelt auch schon die Küsten der Inseln unsicher machte.


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Was eine Animation aus einem Fantasyfilm sein könnte, gibt es wirklich: Glaucus Atlanticus (bis zu 3 cm), auch der Blaue Drache genannt, ist eigentlich im Atlantik zuhause. Die zwei einzigen Mittelmeer-Sichtungen waren vor rund einem Jahrhundert ausgerechnet vor Ibiza. Diese zwei kleinen Drachen fressen gerade einen Organismus der Gattung Porpita porpita (Blauer Knopf).


Vielfalt der Nudis - das Darwin-Prinzip


Die Welt der Nudis ist vielfältig und bunt. Allein im westlichen Mittelmeer, das auch Ibiza und Formentera umgibt, leben rund 150 verschiedene Arten. In der Populärkultur werden sogar mehr als 200 Arten als Meeresnacktschnecken bezeichnet, wie Xavier weiß. Im Jahr 2019 brachte er daher einen „Nudi-Guide“ heraus: Ein Buch über Nacktschnecken, das er von spanischen Gewässern gemacht hat. Darin beschreibt er 247 Arten aus dem Mittelmeer und dem Atlantik mit Tipps zum Fotografieren und wissenswerten Infos. „Die große Vielfalt der Nudis wird durch ihre Ernährung bestimmt“, erklärt Xavier. „So wie Darwin die Galapagosfinken untersuchte, gab es auch bei den Meeresschnecken einen Prozess der evolutionären Ausbreitung: Die Gattungen spalteten sich in verschiedene Arten auf, die sich zum Teil sehr ähnlich sind, weil sie sich von etwas sehr Speziellem ernähren, bis hin zu solchen, die sich nur von einer einzigen Organismenart ernähren können. Das bedeutet, an Orten wie dem Mittelmeer, das viele verschiedene Organismen aufweist, gibt es auch viele verschiedene Nacktschnecken, die sich von ihnen ernähren.“


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In seinem Guide beschreibt Xavier 247 Nudi-Arten aus dem Mittelmeer und dem Atlantik. Das Buch ist dank Xaviers Fotos knallig bunt. Er gibt auch Tipps zum Fotografieren.


Laut Xavier leben die meisten Schnecken zwar auf Felsen, es gibt aber auch welche, die sich im Sand oder sogar schwimmend in der Schwebe zuhause fühlen. Zu ihrer Nahrung zählen unter anderem Schwämme, Fischeier, Nesseltiere und andere Organismen. Manche Nudis tarnen sich camouflage-mäßig in den gleichen Farben wie ihre Nahrung, so dass sie nicht auffallen, bis es zu spät ist. Nudis sind übrigens zwittrige Lebewesen und haben Spermien wie Eizellen. Geschlechter spielen keine Rolle, zur Fortpflanzung braucht es lediglich zwei Artgenossen.


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Vorhang auf für Hermaea variopicta (bis zu 2,5 cm).



Xavier's Tipps fürs Nudi-Spotten


Wusstest du, dass sogenannte „Spotter*innen“ heiß begehrt in der Makro-Fotografie unter Wasser sind? Sie finden auch die kleinsten und verstecktesten Miniatur-Models und machen sich so einen Namen in der Szene. Ohne sie kämen berühmte Unterwasser-Fotograf*innen manchmal gar nicht erst zu ihren Motiven. Deshalb führen die Spotter oft Tauchexpeditionen an und zeigen den Photo-Artists die winzigen, fotogenen Stars. Wer nun neugierig geworden ist und die bunten Wesen einmal mit eigenen Augen sehen möchte oder einfach nicht glauben kann, dass etwas so Verrücktes wirklich existiert, für den hat Xavier folgende Tipps:


Die beste Zeit zum Winzling-Spotten ist der Frühling, wobei mit etwas Glück auch im Sommer ein paar zu sehen sind. „Am einfachsten findet man die Nacktschnecken in felsigen Gebieten, und dort wählen sie oft die Nordhänge, wo weniger Sonne hinkommt. Tagsüber sucht man am besten in den dunklen Bereichen, wie an Überhängen oder Höhleneingängen, und hält nach Farbkontrasten Ausschau. Wenn man nachts mit einer wasserfesten Taschenlampe unterwegs ist, stehen die Chancen auf Nudi-Sichtungen besser, da sie nachtaktiv sind. Solche Expeditionen sind natürlich auch etwas abenteuerlich und sollten nur in bekannten Schnorchel-Gebieten ohne Strömungen und Schiffsverkehr und in Begleitung gemacht werden. Tief tauchen oder weit raus schwimmen muss man bei der Nudi-Suche nicht, denn sie kriechen schon wenige Zentimeter bis Meter unter der Wasseroberfläche über die Felsen.


Die häufigsten Arten, die dank ihrer „Größe“ (immerhin bis zu etwa 6 Zentimeter) und auffälligen Farbe auch relativ gut zu spotten sind, sind etwa die Arten Cratera peregrina, Flabellina affinis, Nemesignis banyulensis und Felimare picta. Letztere kann mit rund 10 Zentimetern zu einer echten Riesin unter den Nacktschnecken im Mittelmeer heranwachsen.


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Nemesignis banyulensis (bis zu 5 cm) zählt zu den häufigsten Nudis vor den Inseln.


Das Wichtigste beim Nudi-Spotten: Mut zur Langsamkeit.


Xavier rät, ruhig zu schnorcheln und ganz genau hinzusehen. Denn der kleinste Mikrokosmos hält manchmal die größten Überraschungen bereit.


Dieser Artikel erschien im Jahr 2023 in der April-Ausgabe des Monatsmagazins Ibiza Live Report. Danke an Xavier für seine bunten Fotos und Facts zu den Nudis. Mehr Nudi-Content auf Xaviers Insta: mediterranean_species



 
 
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