Das große Schwabbeln: Reißen Quallen die Weltherrschaft an sich? Und was wirklich gegen ihre Verbrennungen hilft.
- Carina Neumann
- 1. Nov. 2022
- 4 Min. Lesezeit
In unserer Serie „Meer Wissen“ widmen wir uns dieses Mal bizarren Überlebenskünstlern: den Quallen. Meeresbiologe Dr. Josep-Maria Gili erklärt, welchen Nutzen sie haben, warum der Klimawandel ihnen in die Tentakeln spielt, welche Arten rund um die Inseln unterwegs sind und was gegen ihre Verbrennungen hilft. Dank einer Quallen-Radar-App für Ibiza und Formentera wissen Strandgäste in Echtzeit, wo sich gerade Medusen tummeln.

Wabernde Geleemassen ohne Herz und Hirn, übersät mit Tentakeln und Nesselzellen – wenn gigantische Medusenschwärme die Küsten invadieren, fragt man sich zurecht: Reißen Quallen die Weltherrschaft an sich? Es gab durchaus Vorfälle, die man als Angriff deuten könnte. Zum Beispiel, als ein „Quallen-Blackout“ 2013 die Reaktoren schwedischer Atomkraftwerke lahmlegte. 50 Tonnen Ohrenquallen pro Stunde wurden aus den verstopften Filteranlagen gesaugt. Oder als riesige Jelly-Schwärme wiederholt in die Lachsfarmen nordischer Gewässer trieben und dort Zehntausende Tiere verbrannten. Dagegen kommen die Balearen mit ein paar glibbernden Hafenbecken und „Wackelpudding“ an den Stränden noch vergleichsweise gut weg.
Profiteure von Überfischung, Verschmutzung und Klimawandel
Dennoch sind Medusen auch hier auf dem Vormarsch, denn sie vermehren sich weltweit. Dr. Josep-Maria Gili ist Forschungsprofessor am Institut für Meereswissenschaften (Institut de Ciències del Mar) des Spanischen Forschungsrates („CSIC“) in Barcelona. Seit mehr als 40 Jahren erforscht er verschiedene Meeresorganismen, darunter auch Medusen. „Wir erleben einen globalen Anstieg von Quallen in den Ozeanen. Das hat verschiedene Gründe, doch die zwei fundiertesten sind laut Wissenschaft die anthropogenen (also menschengemachten) Auswirkungen und der Klimawandel“, so der Biologe. Eine zentrale Rolle spielt laut Gili die globale Überfischung. Ein Teufelskreis: Durch sie verschwinden die wichtigsten Fressfeinde der Quallen. Thunfische, Mondfische und Meeresschildkröten sind nur ein paar Beispiele. Gleichzeitig fressen Medusen – wie auch viele kleinere Fische – Plankton. Weil es durch die Überfischung insgesamt immer weniger Fische und damit Nahrungskonkurrenten der Quallen gibt, haben sie ein reiches Angebot: „Viel Futter und wenig Feinde – durch diese Lebensumstände vermehren sie sich exponentiell“, so Gili. „Hinzu kommt die Verschmutzung der Küstengebiete, gegen die Quallen resistenter sind als andere Meeresbewohner.“ Künstliche Substrate etwa, die durch Hafenbecken und (industrielle) Konstruktionen im Küstenbereich ins Meer gelangen, begünstigen das Wachstum der Polypen – und damit der Quallen.
„Der Klimawandel hat einen doppelten Effekt: Einerseits fördern die wärmeren Temperaturen Wachstum und Vermehrung der Quallen, andererseits gelangt durch die Veränderung von Windrichtungen und Strömungen auch immer mehr Ozeanwasser aus dem offenen Meer an die Küsten, in dem die meisten Quallen leben – wie zum Beispiel die Pelagia noctiluca (Leucht- oder Feuerqualle).“
Der Lebenszyklus der Quallen

Illustration @Maximiliane Scheller
Die meisten „Jellies“, die um die Inseln unterwegs sind, durchlaufen laut Gili den typischen Lebenszyklus der Qualle: Die befruchtete Eizelle schwimmt durchs Wasser und setzt sich am Meeresboden fest. Dort verwandelt sie sich in einen Polypen. Wenn der Sommer kommt, produziert der Polyp durch ungeschlechtliche Vermehrung junge Quallen (Ephyren). Sie schwimmen davon, um zu fressen und zu wachsen. Sind sie geschlechtsreif (es gibt dann Männchen und Weibchen), geben sie zur äußeren Befruchtung ihre Samen und Eizellen ins Wasser. Danach sterben sie und der Zyklus beginnt von Neuem.
Einfach mal treiben lassen
Manche Arten, wie die Rhizostoma pulmo (Lungenqualle) oder die emblematische Cotylorhiza tuberculata („Huevo frito“, Spiegelei-Qualle) sind sozusagen „einheimisch“, denn sie sind laut Gili ganzjährig in Form von Polypen oder Quallen rund um die Inseln zu finden. Andere, wie Pelagia noctiluca (Leucht- oder Feuerqualle) kommen mit den Strömungen aus dem offenen Meer an die Küsten. Ihre Verbrennungen sind zwar schmerzhaft, aber nicht gefährlich. Gili gibt Entwarnung: Die zwei gefürchtetsten Quallenarten sind in der Regel nicht zur Hauptbadezeit im Sommer anzutreffen. „Carybdea marsupialis (Mittelmeer-Seewespe) zählt zu den Würfelquallen und ist sehr gefährlich. Zum Glück kommt sie erst zum Ende des Sommers hierher”, wie der Quallen-Experte erklärt. Vermutlich stammen die Seewespen von der Mittelmeerküste Spaniens. Sie reisen sowohl als blinde Polypen-Passagiere an Schiffskörpern, als auch mit den Strömungen zu den Inseln. (Tatsächlich gedeihen Quallen-Polypen nicht nur am Meeresgrund oder auf Riffen, sondern auch auf menschengemachten Flächen wie Schiffen, Ölbohrtürmen und Co. Forscher*innen vermuten, dass die internationale Schifffahrt die Verbreitung invasiver Arten befeuert.) Die sehr stark nesselnde Physalia physalis (Portugiesische Galeere) stammt ursprünglich aus dem Atlantik und gelangt über die Straße von Gibraltar ins Mittelmeer. Nach Andalusien zählen die Pityusen, laut dem Biologen, zu den Mittelmeerregionen, wo sie häufiger zu sehen sind. „Aber zum Glück kommen diese Staatsquallen, die eigentlich ein Zusammenschluss von Polypen sind, hier vor allem im Frühling und nur vereinzelt im Sommer vor.“

Von Medizin bis Delikatesse — der Nutzen von Quallen
Denken wir an Quallen, kommen uns als erstes ihre schmerzhaften Verbrennungen in den Sinn. Dabei sagt Gili: „Quallen greifen uns Menschen nie mutwillig an.“ Außerdem erfüllen Medusen auch wichtige Aufgaben in den Ozeanen: Sie sind wertvolle Nahrung für Fische und Schildkröten. Sinken sie sterbend zu Boden, ernähren sie dort als wichtige Kollagen-Quelle eine weitere Vielzahl an Lebewesen. In China und Südostasien landen Quallen schon seit Jahrhunderten als Lebensmittel im Kochtopf. Sie enthalten kein Fett und kein Cholesterin, dafür viele Proteine, Natrium, Calcium, Kalium und Magnesium. Aufgrund ihrer gesunden Eigenschaften wagt sich manch mutiges Start-Up auch außerhalb Asiens bereits ans „Superfood Qualle“. Medusen machten auch in der Medizin Karriere. Durch Experimente mit der Portugiesische Galeere etwa, entdeckte der französische Forscher Charles Robert Richet 1902 den häufig durch Allergien ausgelösten Anaphylaktischen Schock und erhielt dafür den Nobelpreis. In der modernen Biomedizin sorgen Quallen bis heute für relevante Entdeckungen.
Sind heute Quallen unterwegs? Diese App hilft weiß es
Sind heute Quallen in der Cala Comte oder bei Ses Illetes? Soll ich lieber in eine andere Bucht fahren – aber welche ist überhaupt frei von Medusen? Die App „Ibiza Jellyfish“ zeigt in Echtzeit an, wo bereits Meldungen über Jellies gemacht wurden und wie die aktuelle Quallen-Prognose (je nach Wind und Strömung) für die Strände von Ibiza und Formentera ist. Ampelfarben symbolisieren, wie gefährlich die auftretenden Quallen sind. Außerdem findest du die häufigsten Arten in pityusischen Gewässern und Tipps zur Behandlung von Verbrennungen, heißt es. Die App ist kostenlos und für Android und iOS verfügbar. „Wir lieben die schönen Strände der Inseln und wollen sie möglichst frei von Quallen genießen“, so Ismael und Roel, die Macher der App. Ismael organisiert auf Ibiza auch Cliff Diving. Bei den Klippen-Sprüngen ist der Quallen-Radar ständiger Begleiter. Mehr zur App unter www.medusasibiza.es. Tipp für die katalanische Küste: die App „Medjelly“. Sie dient ebenfalls als Quallen-Prognose und wurde von Expert*innen des CSIC-Meeresinstituts mit entwickelt.
Dieser Artikel erschien im Jahr 2021 in der Juli-Ausgabe des Monatsmagazins Ibiza Live Report. Danke an Maximiliane Scheller für ihre Illustration.



















