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Als ein Abriss über 100 maurische Skelette ans Licht brachte - und warum Eivissa eine Totenstadt ist

  • Autorenbild: Carina Neumann
    Carina Neumann
  • 26. Juli 2023
  • 6 Min. Lesezeit

Ibizas Geschichte schlummert überall. Sie steckt in den rustikalen Burgmauern, den mittelalterlichen Wachtürmen – und sogar unter den Stadthäusern! Kürzlich entdeckten Bauarbeitende bei einem Haus-Abriss mitten in Eivissa Skelette. Eine muslimische Grabstätte, die ins zehnte Jahrhundert zurückgeht. Redakteurin Carina Neumann und Fotograf Jon Izeta haben die Forschenden auf der Ausgrabungsstätte bei ihrer filigranen Arbeit begleitet.


Knapp 120 Skelette liegen auf dem Grundstück hinter dem unscheinbaren Wellblechzaun. Oben: Die Forschenden gehen bei ihrer Arbeit äußerst behutsam vor. Pinsel sind ein wichtiges Werkzeug, wenn es an die Knochen geht.


Ibiza war schon immer ein begehrter Ort. Verschiedenste Völker eroberten die Insel und hinterließen nicht nur kulturellen Reichtum, sondern auch ihre Verstorbenen. Damals, vor 1.000 Jahren, waren es Grabstätten auf dem freien Land. Dann gerieten diese in Vergessenheit, die Stadt wuchs über sie hinweg…


Dieser Maure lebte vor rund einem Jahrtausend auf Ibiza. Man achte auf die kräftigen Zähne - "Industrie-Zucker" war noch nicht erfunden.


Die drei Archäolog:innen Juanjo Mari Casanova, Glenda Graziani und Almudena Garcia-Rubio und ihr Team staunten nicht schlecht, als sie zu dem abgerissenen Gebäude gerufen wurden, keine 50 Meter entfernt vom prächtigen Paseo Vara de Rey. Eine Baggerschaufel brachte die ersten Knochen hervor – und es sollten nicht die letzten bleiben. Das ehemalige Gewerkschaftsgebäude sollte einem „La Sirena“ Einkaufszentrum weichen, als Bauarbeiter auf menschliche Überreste stießen. Inzwischen wurden auf dem 360 Quadratmeter großen Terrain knapp 120 Skelette gefunden. Eher beiläufig hören wir von der Entdeckung und den Ausgrabungen „in der Stadt“, an der Avenida d´Ignazio Wallis, Ecke Calle Bartomeu Vincent Ramón. Das ist doch direkt neben dem Paseo Vara de Rey. Da gibt es Ausgrabungen?

Mit Fingerspitzengefühl und Geduld legt die Archäologin Glenda eines der vielen Skelette frei. Auf der Ausgrabungsstätte, gleichzeitig ein Friedhof, herrscht eine andächtige Stimmung.


Also fahr ich los und mache mich auf die Suche. Alles, was ich finde, ist eine schlichte Lücke zwischen den Häusern mit grauem Bauzaun. Er ist mit Graffiti besprüht und verschmilzt gänzlich mit dem modernen Stadtbild. Auf der großen Kreuzung keucht der Verkehr vorbei, ein paar Jugendliche schnipsen ihre Zigaretten auf die Straße. So gar nichts deutet hier auf wichtige historische Ausgrabungen hin. Aber manchmal warten hinter den unscheinbarsten Fassaden die größten Überraschungen. Mit wenig Hoffnung auf etwas Außergewöhnliches klopfe ich einfach mal an… ich rechne nicht wirklich mit einer Reaktion. Aber plötzlich öffnet sich der Zaun und ich blicke in die Augen eines jungen Mannes: Juanjo, Archäologe. Nach wenigen Worten winkt er mich herein. Es ist erstaunlich, wie ein einziger Schritt mich in eine andere Welt befördert – eine Welt der Toten. Unter mir reihen sich unzählige Skelette auf. Seite an Seite liegen sie da, reglos und still, und sprechen doch Bände. Sofort ist klar: Das hier ist besonders. Da reichen keine fünf Minuten Reden und ein paar Schnappschüsse mit der Taschenkamera. Wir wollen die Archäolog:innen begleiten, bei ihrer Arbeit an einem Fundort, der rund 1000 Jahre alt ist. Nur drei Tage später sind unser Fotograf Jon und ich mittendrin.


Blick gen Mekka - einst ein maurischer Friedhof


Das archäologische Team ist damit beschäftigt, die Knochen in akribischer Feinstarbeit von Erdrückständen zu befreien. Es wird gegraben, gepinselt, gesäubert. Trotz der Arbeiten herrscht eine andächtige Stimmung. Und so wie die Toten eng beieinander ruhen, wirkt es fast friedlich. Die Skelette sind erstaunlich gut erhalten. Das ist, so Juanjo, dem kalkhaltigen Boden auf Ibiza zu verdanken: „Kalk und Trockenheit zerstören mit der Zeit zwar sämtliches weiches, organisches Material, aber Knochen bleiben durch die hohe Konzentration umso besser erhalten“, erklärt der Archäologe. „Die Gräber sind südöstlich ausgerichtet, Richtung Mekka“, erzählt er weiter. „Daher wissen wir, dass es sich um eine muslimische Grabstätte handelt. Sie stammt vermutlich aus der Zeit zwischen dem zehnten und frühen dreizehnten Jahrhundert. Damals wurde Ibiza von einer arabisch-maurischen Ethnie besiedelt, die sich von Andalusien aus in weiten Teilen Südspaniens ausbreitete. Als Dalt Vila im Jahre 1235 von den Christen erstürmt wurde, endete das muslimische Zeitalter auf Ibiza. Unter den Toten könnten sich also einige der letzten Zeitzeugen dieser Epoche befinden.“ Es bleiben noch viele Geheimnisse um die Grabstätte – und die Forscher wollen so viele wie möglich lüften. Doch bereits Ende März sollen die Ausgrabungsarbeiten abgeschlossen werden. Nicht mehr viel Zeit vor Ort. Anschließend werden die Skelette im Auftrag des Archäologischen Museums (Museo Arqueológico) Ibizas in einem Labor untersucht. Dort wollen die Forschenden mehr über die Lebens- und Ernährungsweise, sowie die Todesursachen der Menschen herausfinden. Nach den Studien sollen die Toten ihre letzte Ruhestätte im Archäologischen Museum bekommen. Im Moment sind wir aber noch auf diesem Friedhofs-Ausschnitt mit seinen eng an eng bereits freigelegten Skeletten. Wie viele sich noch unter den Nachbarhäusern und der Straße befinden, wie groß der Friedhof wirklich ist – ich lasse kurz meine Fantasie spielen.


In akribischer Feinstarbeit tragen die Forschenden die Zeitzeugen aus Ibizas maurischer Ära frei.


Groß gewachsen, weiße Zähne und teils stolzes Alter


Einiges kann Almudena, die als Anthropologin auf Knochen spezialisiert ist, jetzt schon sagen: „Vermutlich handelt es sich um einen konventionellen muslimischen Friedhof. Die Knochen weisen keine Kampfverletzungen auf und die Menschen sind offenbar an natürlichen Todesursachen gestorben“, erklärt sie. „Hier sind gleichermaßen Männer und Frauen begraben, viele von ihnen sind über 30 Jahre alt. Das genaue Alter kann man allerdings erst im Labor bestimmen. Zwar wurden auch Überreste von Babys und Kindern gefunden, allerdings nicht ungewöhnlich viele.“ Ich wundere mich über das hohe Alter und die beeindruckende Größe einiger Skelette. „Dass die Menschen früher alle kleiner waren und früh starben, ist ein Trugschluss“, erklärt Almudena. „Die Körpergröße und Lebenserwartung der Menschen hängt immer mit den Lebensumständen in den einzelnen Epochen zusammen“. Die Menschen im muslimischen Zeitalter Ibizas lebten offenbar vergleichsweise gut, denn sie sind groß gewachsen und ihre Zähne weisen keinerlei Karies auf. „Das liegt vermutlich daran“, so Almudena, „dass die Ernährungsweise zu ihrer Zeit natürlicher war und noch kein künstlicher „Industrie“-Zucker konsumiert wurde.“ Auf Ibiza gab es damals viel Fisch, Gemüse und Obst, wenig Fleisch, kaum Zucker. Ärzte frohlocken heute über eine solche Ernährung! Almudena hat in ihrer Laufbahn viele menschliche Überreste untersucht, darunter auch jene aus der Zeit des spanischen Bürgerkriegs. „Die Menschen der 1930er Jahre beispielsweise waren kleiner und auf den ersten Blick schlechter ernährt als diese Muslime aus dem 12. Jahrhundert“, sagt sie.


Wer ist das Mädchen mit den Silberohrringen?


Die sozialen und gesellschaftlichen Hintergründe der Ruhenden hingegen werden wohl niemals geklärt werden – denn damals wie heute schreibt das muslimische Totenritual vor, die Verstorbenen anonym und ohne jegliche Grabbeigaben zu beerdigen. Die Toten werden vor ihrer Beisetzung einbalsamiert und in ein weißes Tuch gewickelt, das Reinheit symbolisiert. Anschließend werden die Verstorbenen in einer engen Spalte im Erdboden beigesetzt. Zwei Tatsachen jedoch verwirren die Forschenden: Der Körper eines jungen Mädchens ist als einziger andersherum ausgerichtet. Ein anderes Mädchen trug bei der Beisetzung Silberohrringe, die neben ihrem Kopf gefunden wurden. Beide Funde sind äußerst untypisch für den muslimischen Totenbrauch und hinterlassen bislang ein Mysterium.


Wer waren diese Menschen einst? Sie wurden nach dem muslimischen Totenritual anonym und ohne Grabbeigaben beigesetzt.


"Eivissa befindet sich auf einem gigantischen Friedhof"


Ich frage Juanjo, warum diese Grabstätte nicht schon längst bekannt ist. Hier wurde doch schon früher gebaut… „Seht euch das hier an“, sagt er und deutet auf ein Skelett, dessen Gebeine zur Hälfte in einem Betonblock verschwinden. Es ist nicht das einzige – bei genauerem Blick ragen einige Knochen aus den Fundamentresten. „Als das alte Gebäude in den 60er Jahren erbaut wurde, wusste man sehr wohl, dass dies hier eine historische Fundstätte ist“, erklärt Juanjo. „Aber damals gab es offenbar kein sonderliches Bewusstsein dafür.“ Da Bauprojekte aufgrund archäologischer Funde meist zeitweise stillgelegt werden, wurden diese in der Vergangenheit oft verschwiegen, um Verzögerungen zu vermeiden. Doch seit dem Jahr 2000 verpflichtet das Weltkulturerbe-Gesetz, jeden Fund zu melden. Eine Missachtung ist strafbar. Wenn die Ausgrabungen abgeschlossen sind und der Inselrat sein OK gibt, darf der Bau des Einkaufzentrums „La Sirena“ auf dem Terrain weitergeführt werden. Die Grabstätte selbst wird nicht zum Museum. Und es wird sicher nicht der letzte Fund antiker Gräber in Eivissa bleiben. Bereits 2003 wurden zum Beispiel einige hundert Meter entfernt ebenfalls menschliche Überreste entdeckt. Sehr wahrscheinlich gehören sie sogar zur gleichen Grabanlage. „Eivissa befindet sich auf einem gigantischen Friedhof“, sagt Juanjo. „Vermutlich befinden sich Tausende von Gräbern unter dem Asphalt und den Häusern“. Die Bewohner haben seit Entstehung der ersten Siedlung ihre Toten am Fuße des Stadthügels begraben. Würde man alle Fundstellen schützen, würde so gut wie jeder Hausabriss bedeuten, dass dort nicht wieder gebaut werden darf. Möglicherweise stammen die beiden Mädchen, die nicht in die muslimische Beerdigungs-Kultur passen, sogar aus einer ganz anderen Epoche, das werden die Laboruntersuchungen klären. Denn es sind ja nicht nur Gräber! Was die aktuelle Ausgrabungsstätte angeht, so wurden dort auch Überreste gefunden, die aus dem römischen Zeitalter stammen: Mauerfragmente verlaufen quer über die Grabstätte. Eine Kultur folgt der nächsten. Sie baut auf dem Boden ihrer Vorgänger. Lange ohne den Blick zurück…


Frühere Bauarbeiter gingen rustikaler mit der rund 1000 Jahre alten Grabstätte um. Einige Skelette verschwinden in alten Betonfundamenten…


Heute gehen wir zum Glück recht sorgsam mit unserer Geschichte um. Auf Ibiza, mit seiner so langen und raumknappen Siedlungsgeschichte, ist die Dichte an historisch wertvollen Funden aber besonders hoch. Die Archäologie und die Regierung haben die schwierige Aufgabe, zwischen wichtigen und unwichtigen Artefakten abzuwägen, sonst würde die Insel ein einziges Museum werden. Die Menschen sind sich ihrer Verantwortung bewusst: „Ibiza steckt voller Geschichte“, sagt Glenda, die die Ausgrabungen mit leitet. „Es ist wichtig, ein historisches Bewusstsein in den Köpfen der Menschen zu schaffen. Heutzutage sind wir so zukunftsorientiert, dass wir die Vergangenheit oft vergessen. Dabei ist sie ein wichtiger Teil von uns und Ibiza.“


Dieser Artikel erschien im Jahr 2016 in der April-Ausgabe des Monatsmagazins IbizaHEUTE. Fotos: Jon Izeta.


 
 
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